Zurück zum Ort der Inspiration: «Gerhard Richter: Engadin»

Der deutsche Künstler Gerhard Richter hat in den 60 Jahren seiner künstlerischen Laufbahn ein bahnbrechendes, vielfältiges Werk geschaffen. Mit der Ausstellung «Gerhard Richter: Engadin» kehren einige Bilder zurück in das Engadin.
vonKonstantin Arnold

Konstantin Arnold ist freier Autor, er lebt und liebt in Lissabon. Er schreibt Geschichten aus aller Welt für Tageszeitungen und Magazine (und für St. Moritz), um sich freitags gute Oliven und portugiesischen Rotwein leisten zu können.

Installationsansicht, «Gerhard Richter: Engadin», Hauser & Wirth St. Moritz, 16. Dezember 2023 bis 13. April 2024 © 2023 Gerhard Richter

Gerhard Richter ist der berühmteste, lebende Künstler der Welt. Das muss man erst mal so stehen lassen. Punkt und Pause. Man könnte dann weiterschreiben und zurückrudern, dass er einer der berühmtesten ist, der die teuersten Bilder verkauft, aber für wie viel müsste man dann googeln. Es ist auch unwichtig oder nur wichtig für Leute, die den Wert einer Sache erst kennen, wenn sie wissen, welches Mass es misst, was es wiegt und wie viel es kostet. Richters Werke befinden sich überall auf der Welt - in russischen Sommerhäusern, auf arabischen Yachten, in erdbebenfesten Kellerräumen, in Holzkisten bei Sotheby's und natürlich in den grossen Museen unserer Zeit, die exklusivsten Privatsammlungen verstehen sich von selber.

Gerhard Richter kommt dennoch ohne Übertreibungen aus. In einer Welt der Superlative besticht seine Arbeit durch ihre innere, einfache und ruhige Kraft. Er sieht eigentlich aus wie der nette Onkel mit weissem Haar, der seine Gesundheit in die Pension gerettet hat, Basecap und Lederarmbanduhr, eine Art Kinderarzt-Charakter, der Haribos da hat und im Engadin eben gerne wandern geht und seine Ferien verbringt; Urlaub machen sagt man seit längerem nicht mehr. Ein Teil seiner Werke ist nun in St. Moritz zu sehen.

Installationsansicht, «Gerhard Richter: Engadin», Hauser & Wirth St. Moritz, 16. Dezember 2023 bis 13. April 2024 © 2023 Gerhard Richter

Richter benutzt für seine figurativen Gemälde Fotografien. Anschliessend wagt er sich an eine Form der Abstraktion heran, die vielleicht noch wahrer ist als jene Wahrheit, die ihnen zu Grunde gelegen hat. Das führt uns unmittelbar zu seinen ikonischen Vorhanggemälden und Farbtafeln. Ein Spannungsfeld zwischen Geben und Nehmen der Darstellung und ihrer Abstraktion eröffnet sich in monumentalen Graugemälden über romantische Landschaften, Meeres- und Wolkenlandschaften bis hin zu Porträts.

Richter wurde 1932 in Dresden geboren und kam 1989 zum ersten Mal nach Sils Maria. Er hält der Regionen des Oberengadins in allen Jahren bis heute die Treue. Die Ausstellung, kuratiert von Dieter Schwarz, zeigt an drei Standorten - dem Nietzsche-Haus, dem Segantini-Museum und Hauser & Wirth St. Moritz - Richters tiefe Verbindung zur Region, ihren Landschaften, Lichtern und Farben in über 70 Werken. Dazu zählen Bilder, übermalte Fotos, Zeichnungen und ein Objekt, das die drei Ausstellungsorte miteinander verbindet, als Edition angefertigt wurde und an jedem der drei Orte zu sehen ist.

Installationsansicht, «Gerhard Richter: Engadin», Segantini Museum St. Moritz, 16. Dezember 2023 bis 13. April 2024 © 2023 Gerhard Richter

1992 präsentierte Hans Ulrich Obrist diese zum ersten Mal im Nietzsche-Haus. Jede dieser escherartigen Kugeln trägt den Namen eines Berges im Oberengadin und repräsentiert alles, was sie umgibt oder was auch immer sie darin sehen. Das soll, so die interpretative Richtlinie der Kuratoren, die erhabenen und zugleich unwirtlichen Erscheinungen der Natur, die in den Bergen deutlich zur Geltung kommen, repräsentieren.

Installationsansicht, «Gerhard Richter: Engadin», Segantini Museum St. Moritz, 16. Dezember 2023 bis 13. April 2024 © 2023 Gerhard Richter

Dennoch: Kunst ist, was zu uns spricht. Das ist von Seelenleben zu Seelenleben unterschiedlich, aber ein Seelenleben muss man dafür haben. An manchen seiner Bilder geht man vorbei, sie sprechen nicht, und vor manchen steht man eine halbe Stunde und manchmal kommt jemand und stellt sich dazu und es ist dann ein intimer Moment. so als ob man diesen Moment zusammen im Bett dieses Bildes verbringt. Es ist unangenehm, und passiert, aber meistens ist es eine sehr einsame und individuelle Erfahrung und nach einem gemeinsamen Museumsbesuch kann man dann nur erraten, welche Bilder den anderen wohl am meisten beeindruckt haben. Es ist interessant, auf welche Bilder wir anspringen, weil sie unser Inneres reflektieren, das, was man nicht erklären kann, ohne es zu malen oder in Musik zu übersetzen. Richter schreibt: «Wenn die abstrakten Bilder meine Realität zeigen, dann zeigen die Landschaften und Stillleben meine Sehnsucht», seine seelische Zusammensetzung, alle komplexen Gefühle, aus denen man ist: Ängste, Erfahrungen, Wünsche, Erinnerungen, Assoziationen, Verletzungen, Melancholien. Menschen sollten sich vor Gemälden kennenlernen.

Installationsansicht, «Gerhard Richter: Engadin», Hauser & Wirth St. Moritz, 16. Dezember 2023 bis 13. April 2024 © 2023 Gerhard Richter

In St. Moritz sind vor allem Gemälde zu sehen, die Richter aus Fotografien schuf, die er während seiner Wanderungen im Oberengadin machte. Landschaftsmalerei, die ihn wegen seiner vermeintlichen Unzeitgemässheit stets faszinierte. Diese Landschaften sind exemplarisch für die Bandbreite Richters Schaffens, seine Vieldeutigkeit, die verführerische Verklärung der Natur und Widerspiegelung ihrer Fremdheit, bis man, eines Tages, selbst wieder Teil von ihr wird, einer von vielen.

Ein Highlight, wenn man das im Vergleich zu den anderen Gemälden überhaupt so nennen kann, ist das Gemälde «Wasserfall» aus dem Museum Winterthur, welches Richters Auseinandersetzung mit der romantischen Malerei des 19. Jahrhundert bis zum totalen Realismus deutlich nachzeichnet. Etwas später übermalte der Künstler einige der Engadiner Motive, darunter Darstellungen des Piz Materdell und des Silsersees, und verwandelte sie in abstrakte Gemälde mit melancholischer Atmosphäre, die auf Landschaftseindrücke reagieren und sich nicht verraten. Das Nietzsche-Haus zeigt vor allem Fotografien von schneebedeckten Tannen, die dem Schriftsteller Alexander Kluge in «Dezember» (Suhrkamp 2010) als Begleiter seiner Texte dienen, in deren Mittelpunkt bedeutende historische Ereignisse stehen. Herrlich.

Installationsansicht, «Gerhard Richter: Engadin», Segantini Museum St. Moritz, 16. Dezember 2023 bis 13. April 2024 © 2023 Gerhard Richter

Gerhard Richter hat in den 60 Jahren seiner künstlerischen Laufbahn ein bahnbrechendes Werk geschaffen, dessen thematische und stilistische Vielfalt in der Kunst unserer Zeit ihresgleichen sucht. Mit der Ausstellung «Gerhard Richter:Engadin» kehren einige Bilder zurück in das Engadin.

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