Wie man anständig Pétanque spielt

Eine Ode an die Sportart, in deren Bedeutungslosigkeit ein grosser Ernst liegt.
vonKonstantin Arnold

Pétanque ist ein, dem Boule-Spiel zugeordneter Präzisionssport, bei dem zwei Mannschaften eine bestimmte Anzahl von Kugeln so nah wie möglich an einer Zielkugel platzieren. Das Wort geht durchs Französische auf das Okzitanische pés, Füsse, zurück, dem das Lateinische pedes, der Plural von pes, zugrunde liegt, was wiederum auf das aus dem Vulgärlateinischen stammende Okzitanische tancar, die Füsse schliessen, zurückführt. Irgendwie so, aber das ist auch egal, ich weiss nichts davon und spiele seit Jahren. Alles, was man braucht, ist Lust und Leute, die das Leben nicht so ernst nehmen, ein paar Bälle (les Boules), die müssen nicht gleich 400 Franken teuer sein, mit eingravierten Initialen, können es aber, nur um die philosophische Präzession dieser Sportart zu verdeutlichen. In seiner scheinbaren Lächerlichkeit liegt sein ausserordentlicher Ernst. Es ist eben nicht nur Murmeln spielen. Es gibt Hierarchien und Positionen und einen Film mit Gérard Depardieu, der das gut zeigt. Es gibt klare Regeln, aber sie sind nur der Käfig, in dem man fliegen kann

Man sollte nicht am Strand spielen und nicht im Gras und auch nicht auf stillgelegten Einbahnstrassen, Parkplätzen, Holocaustdenkmälern oder Raststätten. Man braucht einen ganz besonderen Grund, der hart ist, aber weich und von einem gewissen Umfeld eingeschlossen ist. Eigens dafür vorgesehene Pétanque-Stadien eignen sich, meiner Meinungen nach nicht, denn sie sind abseits und nicht im Centre-Ville des alltäglichen Lebens, wie auf dem Place des Lices in St.Tropez oder vor dem Café de la Place in Saint-Paul-de-Vence, hinter Nizza. Hollywoodstars spielen mit Müllmännern, davon gleich mehr.

Ein anständiger, poetischer Pétanque-Platz wird von Meeren, Bergen, Bäumen gesäumt, Platanen, Ahorn, Kastanien, Maulbeere oder Zypressen, Lärchen und Tannen gehen aber auch. Er liegt idealerweise vor einem Lokal, das berühmt ist oder in der Nähe eines anderen berühmten Ortes wie St. Moritz, auf 1800 Metern Höhe, vor dem Suvretta House. Hier schläft ein Gedicht von einem Platz unbenutzt in der Sonne und im Winter im Schnee.

Wir spielen in Lissabon, ohne den berühmten Ort, immer freitags, mit Apéro, 18 Uhr im Jardim Torel, unten beim Brunnen rechts, kommen Sie gerne vorbei, wenn sie mal da sind, aber pünktlich und bringen Sie ihre eigenen Kugeln mit und eine Flasche und lassen das Telefon daheim. Am Anfang war da nichts und niemand, nur wir und der Platz. Ein paar Bekloppte eben, die mit grossen Murmeln spielen. Die Männer hielten uns für verrückt, die Frauen für langweilig. Manchmal machte einer Fotos oder spielte mit, aber nur wegen der Drinks, was nicht sehr schön war. Irgendwann fielen ihnen dann unsere glücklichen Kindergesichter auf und mit welcher Leidenschaft und Akribie wir die Kreise malen, von denen man wirft und wie wir um die Bälle diskutierten, ob der oder der nun näher ist und wie dann einer ins Gebüsch ging, um einen Zweig zu holen, und ihn bacchusmässig zwischen die Kugeln zu legen. Glück ist nichts anderes, als nichts anderes zu verlangen. Es war wie mit allem im Leben. Man kann die Leute nicht vom Glück überzeugen, wenn sie es nicht selbst in sich tragen. Man kann es nur vorleben und warten und hoffen, dass es sich entfacht. Alles andere ist Zeitverschwendung, wie jemanden Caravaggio zeigen im Prado, wenn man sonst nur Gefühle zeigt, weil Federer aufhört, wobei ich da auch heulen musste. Wie sagt man, Poesie und Frauen geben sich nackt nur ihren Liebhabern hin.

Pétanque ist eines der schönsten dummen Dinge der Welt. Deswegen passt es so gut zu St. Moritz, man hätte dort den nötigen Humor, den es generell braucht, um mit dem Leben fertig zu werden. Es bedeutet vielleicht nichts, aber was bedeutet dann überhaupt irgendwas? Fussball? 22 Leute, die ihre besten Jahre opfern, um mit 35 immer noch nicht Descartes gelesen zu haben und Jägermeistershots an der Bar zu bestellen? Was bleibt einem im Leben, als die Dinge nicht ernst zu nehmen? Mit Andacht und Ausdauer, muss ja keine sportliche sein. Man spielt es, um zu spielen, aus keinem anderen Grund. Man wird nicht reich damit. Wer nicht spielt, hat die Hände zufrieden hinter dem Rücken gefaltet. Manchmal wurde diskutiert, aber nur so, dass sich der Zigarillostummel im Mund halten konnte. Es hilft natürlich alt zu sein und in einer festen Beziehung im Süden.

Für mich ist Pétanque das Beste, was man nach einem langen Familienlunch mit sich und der Welt anfangen kann, wenn man vom Wein schwer ist und sich wie ein Amboss fühlt, aber mit Flügeln dran, und die Sonne hochsteht und die Arbeit ruht und nur die Bienen noch Kraft haben. Anstatt sich weiter grundlos am Tisch bis zum Abendessen durchzusaufen, steht man im Schatten der Maulbeerbäume, wirft ein paar Kugeln, trinkt, aber weniger, und wird durch die periphere Konzentration langsam wieder nüchtern.
Das erste Mal, dass ich so glückliche Männer sah, war 2018 in Saint-Tropez, vorm Le Café. Das waren die Männer des Südens, mit Baumasse für grosse Kunst. Ich wollte ihre Spuren im Staub küssen. Wir waren gerade auf einem Roadtrip und sind fast an Saint-Tropez vorbeigefahren, weil wir dachten, was alle denken, wenn es um diesen Ort geht. Reiche russische Yachten, neureiche Gehversuche, Kokotten und Beaus. Aber dem war so nicht und wir gingen in Kunstgalerien und sassen im Le Café beim Pastis und sahen, wie die alten Männer spielen. Drinnen hingen Fotos von Gunther Sachs und Brigitte Bardot, pétanquespielend, glücklich, schön angeschossen.

Das zweite Mal sah ich sie in Saint-Paul-de-Vence, hinter den Hügeln vor Nizza. Es ist eine natürliche Arena, vielleicht das schönste Stadion der Welt. Die Touristen stehen ehrfürchtig drum rum, wie vor einer Sehenswürdigkeit, die man nicht sehen kann und machen Fotos. Sie können es nicht fassen und als Spieler kann man nicht leugnen, dass einen das anheizt. Die Terrasse des grossen Cafés funktioniert wie ein Logenplatz. Was für Ausgangsbedingungen, mit dem Romantischen des Dorfes und dem Weiss des Platzes und den Schatten der Bäume vor dem Café, und der kleinen Bar, wo die Spieler sitzen und sich was leisten können und all den Berühmtheiten des Colomb d’Or. Ein weltberühmtes Lokal, vielleicht das berühmteste. Belmondo, Picasso, Paul Newman, Orson Welles, Tony Curtis, Sophia Loren, Romy Schneider, Delon, Brad Pitt, Tarantino, Marion Cotillard (die Edith Piaf gespielt hat) und Yves Montand haben hier gegessen. Drinnen hängen Originale von Alkoholikern wie Maurice Utrillo, Matisse und Miró. Im Innenhof Sonnenflecken auf den Tischdecken und Weinkühlern, die im Schatten der Maulbeerbäume schwitzen, wunderschön, aber ich verabscheue dieses Lokal. Kann das Lokal aber nichts für, nur der dicke Mann mit dem roten Kopf, der es führt.

Ein paar Monate später war ich wieder in Vence. Wohnte im Hotel über den Hügeln von Nizza. Hatte sogar eigene Kugeln dabei. Am ersten Tag sass ich nur rum, vorm Café, trank Pastis auf der Mauer, kam langsam näher, näherte mich an, damit sie sich an mich gewöhnen, wie an einen neuen Baum. Man muss schon was dafür tun. Ist ja nicht so im Süden, dass man sich nur in der Sonne zurücklehnen muss und einem die Rosinen ins Maul wachsen. Man muss Zeit investieren, kann nicht einfach hingehen, mitspielen wollen. Diese Männer sind ansässig, ineinander verwachsen, das ist irgendwie heilig. Im Clubhaus hängen Schwarz-Weiss-Bilder von all denen, die hier schon gespielt haben. Schauspieler, Strassenfegern, Präsidenten unter dem Kommando von Müllmännern. Nach zwei Stunden fragte dann endlich einer, ob ich spielen kann und ich sagte ja und er rief Alor! Ich konnte es kaum fassen. Ich stand tatsächlich auf dem Platz, war Teil davon, stand da, trat ganz fest auf, fühlte den Platz unter den Füssen. Sah das Leben wie an einen Lebensabend, Vollendung im Moment, ein Nachmittag, den man am Meer verbringt. Es erschien mir als die höchste Form südlichintegrierten Lebens. Ich war angekommen.

Und hier mein Vorschlag, lieber Peter Egli. Vor dem Suvretta House liegt einer der schönsten Plätze der Welt. Man sieht auf die Berge, kommt sich klein vor und sieht die Seen. Stände glücklich an das Hotel gelehnt. Wie oft war ich da, sass auf der Terrasse und träumte von Menschen, die da spielen. Was halten Sie von den Pétanque Open St. Moritz? Ricard als Hauptsponsor, ich habe auch schon gefragt.

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