Kontrastreiche Kunst: Auf Museumstour im Engadin

Im Engadin steht die Kunst unter dem Stern der Gegensätzlichkeit. Beim Besuch dreier bedeutender Adressen in der Region zeigt sich: Kontraste und Harmonie müssen sich nicht ausschliessen. Ganz im Gegenteil.
vonCharlotte Fischli

An unserem Herbstwochenende im Engadin wollen wir uns vor allem einer Sache widmen: der Kunst. Auf dem Julierpass findet sie der Reisende zum ersten Mal. Das Bergpanorama gleicht einem Gemälde, an dem man sich auch nach zig Überfahrten nicht sattgesehen hat. Im September vermischen sich die dunklen Grautöne der Berge mit den hellen der Kieselsteine, das milchige Weiss der Nebelschwaden mit dem erdigen Grün der Wiesen. Und das klare Wasser des Silvaplanersees, welches sich auf der Zielgeraden in leuchtendem Türkis auftut, ruft Friedrich Nietzsches berühmte Worte in Erinnerung: «Ich habe jetzt die beste und mächtigste Luft Europas zu atmen». Der Philosoph fand sein Refugium 1880 in Sils Maria. Wir erreichen unser Ziel in St. Moritz.

Nach dem sonnigen Bergsommer ist es im Dorf etwas ruhiger geworden. Die Hotels rüsten für die neue Saison auf, die Modeläden ersetzen Sommerkleider mit Daunenwesten. Und auf den Terrassen der Bergrestaurants schlemmt man seine Pizzoccheri nun mit einer Decke über den Schultern. Mit Aussicht auf See und Berge planen wir im Restaurant «Trutz» die kommenden Tage.

Das Kunstangebot in und um St. Moritz ist vielfältig. Geschichtsträchtiges wechselt sich ab mit Gegenwartskunst und ein kurzer Spaziergang durchs Zentrum bestätigt den Ruf der Gemeinde als neuen Hotspot der Kunst-Szene: Wir spazieren vorbei an der Weltgalerie Hauser & Wirth, die seine Dependence 2018 an der Via Serlas eröffnete, sowie an den Fassaden der Galerien von Vito Schnabel und Andrea Caratsch – beide gefragte Adressen für zeitgenössische Kunst. Unser erstes Ziel finden wir jedoch etwas weiter in Richtung St. Moritz Bad, in einem steinigen Bau, welcher am Hang den St. Moritzersee überblickt: Im Segantini Museum, der wohl bedeutendsten Adresse des Oberengadins.

Segantini: Der Mann, der Mythos, die Legende

Manche sagen, seine Werke haben das Engadin berühmt gemacht. Andere nannten Giovanni Segantini den «Maler der Berge». Fakt ist: Niemand pinselte die Natur so wie er. Die Werksammlung im Kuppelbau des Architekten Nicolaus Hartmann – es ist die weltweit grösste des Künstlers – zeigt das Talent des gebürtigen Welschtirolers eindrücklich auf: Im ersten Stock steht man zunächst vor Segantinis darstellerischen Selbstporträts, dann vor der ikonischen «Frühmesse» (1885) oder der «Ave Maria bei der Überfahrt» (1886). Wir folgen der Entwicklung seiner einmaligen Maltechnik. Und begegnen dieser später, einen Stock höher, in all ihrer Grossartigkeit.

In der Kuppel nämlich hängt das Tryptichon «La Vita - La Natura - La Morte»: drei Bergszenen, die Segantini zwischen 1896 und 1899 malte. Sie sind so überwältigend, dass sie den gesamten Raum mit ihrer Energie ausfüllen. Ihre Vorgeschichte lässt sich dabei nicht erahnen: Ursprünglich für die Pariser Weltausstellung von 1900 als multimediales «Engadin-Panorama» von 220 Metern Umfang und 20 Metern Höhe (!) gedacht, blieben die drei Gemälde letztlich aufgrund des Todes Segantinis unvollendet. Ihrer Wirkung tut dies keinen Abbruch. Eine Skizze beim Eingang, die einen gigantisch hohen Kuppelbau zeigt, deutet auf seine Vision hin, wie die Bühne für sein unglaubliches Werk hätte aussehen sollen. Sie wurde stattdessen die Basis für seine Gedenkstätte im Engadin. Und steht ausgerichtet zum Schafberg – demjenigen Gipfel, auf dem Segantini seine letzten Pinselstriche zog.

Schloss Tarasp: Not Vitals Refugium im Unterengadin

Ein Abendmahl beim modernen Dorfitaliener «La Scarpetta» und eine Nacht im neuen Boutique-Hotel «Grace La Margna» später kurven wir am nächsten Morgen weiter in Richtung Unterengadin. Ins Schloss Tarasp nämlich, dessen Hausherr, Not Vital, als einer der wichtigsten zeitgenössischen Künstler gilt. Dass man sich langsam dem 1040 erbauten Schloss annähert, lassen mehrere silberne Skulpturen vermuten, die in der Nähe verteilt stehen. So zum Beispiel Not Vitals «Mond» inmitten des Dorfweihers, dann, kurz vor dem Eingang, die Skultpur «Pelvis». Sein wohl berühmtestes Werk werden wir später im Schlosspark sichten: Das «House to watch the sunset» ist eine 13 Meter hohe Treppen-Skulptur, deren extrem steile Stufen man auf eigene Gefahr erklimmt.

Im Schloss Tarasp angekommen, wird die Tür hinter uns geschlossen. Das Haus ist zwar öffentlich zugänglich, erfordert jedoch stets den Rahmen einer Führung. Die Bedingung kommt einem entgegen, wie wir später realisieren werden: Vor lauter Kunst und Historie wäre es leicht, Preziosen zu übersehen. Es sind neben Not Vitals eigenen Werken auch Geschenke von befreundeten Künstlern und Reisesouvenirs, die der Hausherr in den unzähligen Zimmern ausstellt. So reiht sich eine persönliche Widmung Jean-Michel Basquiats an antike Möbel des ehemaligen Eigentümers Karl August Lingner; Laternen aus Marokko stehen neben den ikonischen Rindszungen-Skulpturen («Tongue») Not Vitals. Mit ihnen strahlt aber eben auch die Schlossarchitektur selbst um die Wette: Reich verzierte Holzdecken und -türen sowie kunstvoll gekachelte Badezimmer lassen erahnen, wie es sich hier vor Jahrhunderten lebte. Die einstündige Tour vergeht wie im Flug. Und endet in der Küche des Schlosses, deren Wände vier Bilder von Andy Warhol, ein «Fallenbild» von Daniel Spoerri sowie eine Fotografie des britischen Land-Art-Künstlers Richard Long zieren. Die Führung hinterlässt uns allein mit einem Gedanken: Können wir nochmals von vorne anfangen?

Muzeum Susch: Ein Haus, zwei Welten

Auch in Susch, dem 200-Seelen-Dorf am Fusse des Flüelapasses, trifft Altes auf Junges – vorausgesetzt, man findet den Eingang. Das 2019 eröffnete Muzeum Susch ist nämlich so gut getarnt, dass so mancher Besucher die Tür verfehlt. Betritt man den ausgehöhlten Häuserkomplex, der früher Kloster und Brauerei war, tut sich einem eine neue Welt auf: diejenige von Grażyna Kulczyk, der polnischen Unternehmerin und Kunstmäzenin, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Susch auf die kulturelle Landkarte zu setzen.

Dies gelang nicht zuletzt wegen der atemberaubenden Architektur des lokalen Duos Chasper Schmidlin und Lukas Voellmy, die die bestehenden Strukturen während drei Jahren restaurierten und sowohl optisch als auch funktional integrierten. Und eine 1500 Quadratmeter grosse Fläche schufen, die heute eine beträchtliche Sammlung von Werken – vermehrt polnischer Staatsbürger:innen – beherbergt. Der Edelstahlzylinder von Kulczyks Landsmann Miroslaw Balka etwa rotiert in einer natürlichen Grotte, die einen mit der Frage hinterlässt, wo Architektur endet und Kunst anfängt. Ein totemartiger Turm des Argentiniers Adrian Villar Rojas steht wiederum in einer Kammer aus dem 12. Jahrhundert und sieht aus, als wäre er schon immer da gewesen. Erst in den oberen Stockwerken weicht das Dunkle dem Licht: In verschiedenen Räumen betrachten wir bewusst orientierungslos die temporäre Ausstellung Wanda Czelkowkas. Sie ist stellvertretend für Kulczyks Leitmotiv im Muzeum Susch: Gezeigt werden vor allem Konzeptkunst, sowie diejenige von zu Unrecht übersehenen Frauen. «Art is not Rest», so der Name der aktuellen Schau. Die innere Ruhe findet man, tatsächlich, erst draussen wieder.

Da hat sich die Sonne gegen die Wolken durchgesetzt, wir stärken uns vor unserer Abreise mit einer Nusstorte aus dem Museumscafé. Und sinnieren darüber, wie reich an Kontrasten all das war, was wir in den letzten 48 Stunden gesehen haben: Leben und Tod bei Segantini, Altes und Neues in Tarasp, Intellektuelles im Urchigen in Susch. Vielleicht liegt die Harmonie in den Gegensätzen. Wir lassen die Berge im Vereinapass hinter uns – die Eindrücke aber bleiben.

Charlotte Fischli ist Autorin, Beraterin und Content Creator und widmet sich der Welt der Mode, der Inneneinrichtung und des Designs.

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