Zwischen Himmel und Tal

Gleitschirmfliegen ist mehr als nur ein Sport – es ist ein intensives Naturerlebnis, ein Spiel mit Wind und Thermik, ein Perspektivenwechsel, der süchtig macht. Vier Gleitschirmpilot:innen erzählen, was das Fliegen in diesem einzigartigen Hochtal so herausfordernd – und zugleich so magisch – macht. Von ersten Soloflügen über spektakuläre Streckenflüge bis hin zu Begegnungen mit Adlern.
vonCarmen Baumann

Carmen Baumann ist Head of Marketing Services. Über 3'303 Meter über Meer hat sie es – abgesehen vom Flugzeug – noch nie geschafft, wäre einem Tandemflug jedoch nicht abgeneigt.

Romano Salis

Romano, wie hast du deinen ersten Flug über das Engadin erlebt?
Mein erster Flug über das Engadin war vom Piz Corvatsch aus. Ich bin mit der Bahn hochgefahren, schon ziemlich nervös, weil ich nicht genau wusste, wie die Windverhältnisse sein würden. Ob ruhig oder ruppig – hier braucht es Erfahrung. Oben an der Bergstation habe ich meinen Schirm ausgelegt, das Material sorgfältig kontrolliert, die Windrichtung geprüft – sie hat gestimmt, Gegenwind, ideal für den Start.
Dann der Abflug – direkt in die klare Engadiner Luft. Rechts das Berninagebiet, links das weite Tal. Ich war zwar angespannt, aber die Aussicht war atemberaubend. Ich flog mit 25 bis 30 km/h ins Tal und hatte somit Zeit, die Landschaft zu geniessen. Etwa 15 Minuten später bereitete ich mich auf die Landung vor. Der richtige Moment ist entscheidend – wenn’s passt, ist das ein unglaubliches Gefühl.
Und genau das war es: ein riesiges Glücksgefühl – das erste von vielen.

Was macht das Fliegen im Engadin besonders herausfordernd – oder besonders magisch?
Für mich ist das Engadin einer der schönsten Orte der Welt zum Gleitschirmfliegen – aber auch einer der anspruchsvollsten. Besonders im Frühling und Sommer gibt es starke Talwindsysteme, die man verstehen und lesen können muss. Gleichzeitig ist die Landschaft einzigartig: die Seenplatte, die goldenen Lärchen im Herbst, die klare Sicht im Winter – vier Jahreszeiten, jede auf ihre Weise magisch.
Was das Fliegen hier so besonders macht, ist dieser Perspektivenwechsel: Man sieht die Welt nicht vom Wanderweg oder vom Gipfel, sondern aus der Luft. Man kann bis auf 4000 Meter über Meer steigen und neue Täler, neue Orte entdecken. Ich liebe es, solche Momente mit der Kamera einzufangen – egal ob bei Quellwolken, im Abendlicht oder am frühen Morgen. Das ist mit nichts anderem vergleichbar.
Welche Bedeutung hat die Fliegergemeinschaft hier für dich?

Gibt es einen Moment, der dir besonders in Erinnerung geblieben ist?
Die Gemeinschaft hier bedeutet mir sehr viel. Die schönsten Erlebnisse für mich sind sogenannte Streckenflüge zu zweit, bei denen man von A nach B fliegt – oft über längere Distanzen. Bei solchen Flügen muss man sogenannte Thermikschläuche finden und zu zweit funktioniert das oft besser und effizienter.
Ein Moment, der mir besonders in Erinnerung geblieben ist: ein Flug mit einem Freund, gestartet vom Piz Corvatsch, zuerst in Richtung Italien, dann zurück in Richtung Österreich – und als krönender Abschluss über den Piz Bernina in der Abendsonne. Danach sind wir in Surlej gelandet und haben mit einem Bier auf den Tag angestossen. Solche Erlebnisse fühlen sich fast surreal an – dass das alles mit einem Stück Stoff möglich ist!

Gibt es ein Erlebnis in der Luft, das du nie vergessen wirst?
Für mich gibt es nicht nur einen Moment, sondern viele Hunderte, die ich nie wieder vergessen werde. Sei es, als ich das erste Mal über den Piz Badile geflogen bin oder das erste Mal über den Biancograt des Piz Bernina. Diese Erlebnisse rufen starke Emotionen hervor, und ich werde sie für den Rest meines Lebens mit mir tragen.

Peter «Pesche» Käch

Pesche, wie hast du deinen ersten Flug über das Engadin erlebt?
Mein erster Flug über das Engadin war im Juli 1990 – also vor 35 Jahren! Ich bin von der Alp Languard gestartet und entlang des Hangs geflogen. Ich war überrascht, wie einfach es war, oben zu bleiben und weiter aufzusteigen. Dieses Gefühl der Leichtigkeit war unglaublich.
Allerdings wurde mir schnell bewusst, dass das Obenbleiben nur die halbe Miete ist – das Wieder-Runterkommen kann ebenso herausfordernd sein. Es hat dann auch eine Weile gedauert – und einige Nerven gekostet – herunterzukommen. Und meine Landung beim Bahnhof Pontresina war etwas ruppig. Trotzdem war es ein wunderschöner Flug, der mich tief beeindruckt hat. Und offenbar hat es mich gepackt – denn schon am nächsten Tag bin ich wieder von der Alp Languard losgeflogen.

Was macht das Fliegen im Engadin besonders herausfordernd – oder besonders magisch?
Anders als im Jura oder Berner Oberland starten wir hier im Engadin meist auf über 2500 Metern, etwa auf dem Corvatsch sogar über 3000 Meter. Dadurch ist die Luft dünner, man bewegt sich oft in den überregionalen Höhenwinden und das Gelände ist komplex – eingebettet mitten in den Alpen mit starkem Einfluss von Nord- und Südseite.
Um hier sicher zu fliegen, braucht es eine gute Vorbereitung, Respekt vor den oben genannten Besonderheiten und mit Vorteil etwas Erfahrung. Für uns Einheimische ist Gleitschirmfliegen nicht gefährlicher als Mountainbiken – einfach eine andere Art, sich zu bewegen.
Und das Schönste: Wir starten nicht nur hoch, wir fliegen auch hoch. Oft über 4000 Meter, über schneebedeckte Gipfel, über die Berninagruppe, mit Blick auf das Ortler-Massiv, die Berner Alpen oder Richtung Monte Rosa. Dieses Gefühl – über allem zu stehen – ist schwer zu beschreiben. Es ist wirklich: Top of the World.

Welche Bedeutung hat die Fliegergemeinschaft hier für dich? Gibt es einen Moment, der dir besonders in Erinnerung geblieben ist?
Die Gemeinschaft unterscheidet sich spürbar von anderen Fluggebieten – vielleicht, weil wir etwas abgelegener sind. Wenn man hier am Startplatz steht, trifft man meist auf bekannte Gesichter, oft Einheimische. Wer von auswärts dazukommt, sei es für Ferien oder zum Arbeiten, wird herzlich aufgenommen.
Bis zum Start ist man oft gemeinsam unterwegs, zu Beginn ist man auch noch nebeneinander in der Luft, danach fliegt meist jede Person seinen eigenen Weg – manchmal stundenlang alleine. Und doch trifft man sich später wieder am Landeplatz, tauscht sich aus, erzählt, was man erlebt hat. Das Gleitschirmfliegen ist kein organisierter Teamsport, aber es verbindet auf eine tiefe Weise. Auch wenn man sich nur selten sieht, ist sofort ein vertrautes Gefühl da. Es ist eine stille, starke Verbundenheit – und wenn jemandem etwas passiert oder es jemandem nicht gut geht, dann bleibt das nicht unbemerkt. Man hält zusammen.

Gibt es ein Erlebnis in der Luft, das du nie vergessen wirst?
Über bald 40 Jahre hinweg haben sich viele besondere Erlebnisse angesammelt. Doch einer dieser Momente ist mir besonders geblieben: Es war nach einem langen Streckenflug, bei dem ich weit aus dem Tal hinausgeflogen bin, jedoch in der Absicht wieder zurückzufliegen. Auf dem Rückflug konnte ich mich stets an der weissen Bernina-Gruppe orientieren. Als mich schliesslich kurz vor Sonnenuntergang eine überraschend ergiebige Thermik noch einmal über die Gipfel hochschrauben liess, wurde mir klar, dass der Plan aufgeht.
Das Gefühl, nach einem ausgedehnten Flugtag – manchmal acht, neun oder sogar zehn Stunden in der Luft, mit 100, vielleicht 200 Kilometern unter dem Schirm – wieder dort zu landen, wo alles begonnen hat, ist unbeschreiblich. Der Endanflug auf einen bekannten Landeplatz, begleitet von der ruhiger werdenden Abendthermik, ist für mich eines der schönsten Erlebnisse überhaupt.
Natürlich bleiben auch andere Eindrücke im Herzen – etwa das erste Mal frühmorgens über den Biancograt zu fliegen. Aber dieses Gefühl, nach so langer Zeit in der Luft wieder nach Hause zu kommen, ist etwas ganz Besonderes.

Gabi Schmutz

Gabi, wie hast du deinen ersten Flug über das Engadin erlebt?
Die ersten Gleitschirmflüge habe ich im Tandem gemacht, hauptsächlich mit «Pesche». Je öfter ich mit ihm mitfliegen durfte, desto mehr hat mich die beeindruckende Landschaft von oben fasziniert – und dass man ganz ohne Motor dabei längere Strecken zurücklegen kann. Einmal waren wir sogar 3,5 Stunden in der Luft, gestartet auf Muottas Muragl, über den Biancograt bis ins Unterengadin. Mein erster Soloflug war dann im Winter von Muottas Muragl aus. Dieses Gefühl von Freiheit, ganz alleine mit dem Gleitschirm über die verschneite Landschaft zu gleiten und – unten sicher zu landen –, ist mir bis heute in wunderschöner Erinnerung geblieben.

Was macht das Fliegen im Engadin besonders herausfordernd – oder besonders magisch?
Oft ist man am Startplatz ganz allein und es gibt keine anderen Pilotinnen oder Piloten, an denen man sich orientieren kann oder die einem den Start „vormachen“. Man muss selbst entscheiden: Starte ich oder nicht? Wo genau ist der beste Punkt? Auch die Startplätze selbst sind selten einfach. Es sind keine sanft abfallenden Wiesen, sondern felsdurchsetzt oder voller Geröll – wie am Corvatsch. Der Platz ist oft knapp, der Start technisch fordernd, und man braucht Erfahrung und eine gute Einschätzung der Bedingungen. Hinzu kommt das ausgeprägte Talwindsystem im Engadin. Besonders der Malojawind kann innert kurzer Zeit sehr stark werden. Hinter Geländekanten, Bäumen oder Wäldern entstehen dann gefährliche Turbulenzen. Wenn bei Punt Muragl der Berninawind und der Malojawind am Nachmittag aufeinandertreffen ist ein Runterkommen und Landen manchmal fast unmöglich.

Welche Bedeutung hat die Fliegergemeinschaft hier für dich? Gibt es einen Moment, der dir besonders in Erinnerung geblieben ist?
Da es nicht viele Piloten gibt, trifft man sich oft zufällig am Startplatz oder in der Luft. Manche kennt man schon, andere lernt man beim Fliegen kennen. Besonders spannend ist der Generationenmix: Jung und Alt fliegen hier zusammen, und man profitiert von den unterschiedlichen Erfahrungen und Perspektiven.

Ein besonders eindrückliches Erlebnis war, als eine Kollegin nach einem Fussbruch wieder zurückkehrte. Nach ihrer langen Pause war sie anfangs noch unsicher, vor allem beim Start auf Muottas Muragl, dort wo sie den Fuss gebrochen hat. Davide unterstützte sie mit einem Tandemflug von dort oben, sodass sie langsam wieder Vertrauen gewinnen konnte. Als sie dann wieder mit dem Soloschirm startete, halfen ihr alle aus der Gemeinschaft, unterstützten sie und gaben ihr ein Gefühl von Sicherheit. Es war schön zu sehen, wie stark der Zusammenhalt hier ist und wie sehr wir uns gegenseitig helfen.

Gibt es ein Erlebnis in der Luft, das du nie vergessen wirst?
Etwas vom Schönsten für mich und immer wieder wahnsinnig faszinierend ist es, wenn man alleine mit einem Adler oder mehreren Adlern oder sogar einem Bartgeier in der Thermik kreist. Gerade im vergangenen Winter habe ich das auf Muottas erlebt: Mit zwei Jungadlern bin ich 20 Minuten lang am gleichen Ort geflogen. Es ist beeindruckend, wie entspannt diese Tiere sind. Das ist wirklich eines der schönsten und faszinierendsten Erlebnisse für mich.

Davide Grosina

Davide, wie hast du deinen ersten Flug über das Engadin erlebt?
Mein erster Flug über das Engadin war an Silvester 2010! Während alle anderen damit beschäftigt waren, eine Party vorzubereiten oder Ski zu fahren, schwebte ich über die gefrorenen Seen. Von oben sah alles so lebendig und gleichzeitig friedlich aus, fast schon magisch. Das Engadin kenne ich seit meiner Kindheit, aber diese Vogelperspektive war für mich ganz neu – es war unglaublich, das Tal von oben zu sehen. In diesem Moment entstand in mir der Wunsch, dieses Erlebnis mit anderen zu teilen, und so kam ich auf die Idee, das Tandemfliegen zu lernen. Einige Jahre später machte ich meine Tandemlizenz, was dann auch zu meinem Beruf wurde: Seitdem kann ich den Menschen zeigen, was ich damals zum ersten Mal gesehen habe. Und selbst nach über 5000 Flügen ist es für mich jedes Mal wieder wie das erste Mal – ich bin einfach unbeschreiblich glücklich.

Was macht das Fliegen im Engadin besonders herausfordernd – oder besonders magisch?
Das Fliegen im Engadin ist besonders herausfordernd und magisch zugleich. Noch bevor ich aus dem Bett steige, schaue ich aus dem Fenster in alle Richtungen und versuche zu spüren, welche Laune der Wind heute hat. Das ist der erste und wichtigste Schritt: den Wind spüren. Danach öffne ich alle meine Apps, checke die Webcams in jeder Ecke des Tals und analysiere die Windstärken – ganz genau will ich wissen, was heute im Engadin möglich ist. Malojawind, Nordwind? Entwickeln sich Wolken, oder sind sie schon da? Nach 15 Jahren Flugerfahrung hier habe ich ein Gespür für das Tal entwickelt.
Das Engadin ist fast wie ein lebendiger Charakter – oft hat es andere Pläne als die Prognosen. Das komplexe Windsystem verlangt Respekt. Am besten hört man zu und nimmt an, was das Tal bietet, statt es erzwingen zu wollen. Denn am Ende bestimmt die Natur, wann und wie wir fliegen.

Welche Bedeutung hat die Fliegergemeinschaft hier für dich? Gibt es einen Moment, der dir besonders in Erinnerung geblieben ist?
Manchmal bin ich zehn Stunden alleine in der Luft, völlig bei mir, fast wie in Meditation. An anderen Tagen wird das Fliegen zum Teamsport. Man kennt sich, erkennt sich schon an den Schirmen, fliegt gemeinsam los, tauscht sich aus. Alle bringen unterschiedliche Hintergründe und fühlen sich bei verschiedenen Bedingungen wohl – ob ruhig oder turbulent, hoch oder bodennah. Und genau das macht die Gemeinschaft so wertvoll.
Ein tolles Erlebnis war im Winter auf Muottas Muragl. Wir sind den ganzen Tag geflogen – gestartet, gelandet und wieder gestartet. Irgendwann war die Thermik plötzlich weg – und innerhalb weniger Minuten flogen alle zum selben Landeplatz. Dort trifft man sich wieder, alle mit einem breiten Lächeln im Gesicht, und erzählt sich, was er oder sie erlebt hat.
Nur wir, die oben in der Luft waren, wissen wirklich, wie es sich angefühlt hat. Es ist eine riesige Freude, das miteinander zu teilen.

Gibt es ein Erlebnis in der Luft, das du nie vergessen wirst?
Einer der Momente, die ich nie vergessen werde, war mein erster Flug über den Piz Bernina und den Biancograt.
Um überhaupt dorthin zu kommen, musste ich auf über 4500 Meter steigen – ganz allein, weit weg von Dörfern, Strassen, Geräuschen. Oben war es vollkommen still. Selbst das Variometer, das sonst mit seinem Piepen anzeigt, ob man steigt oder sinkt, war plötzlich stumm – die Thermik war vorbei, es gab nichts mehr als die klare, unbewegte Luft.
Ich schwebte über der Gletscherwelt, sah Italien auf der einen, Österreich auf der anderen Seite – und fühlte mich für einen Moment nicht mehr Teil dieser Welt. Es war ein Gefühl, wie auf einem anderen Planeten. Es ist schwer zu beschreiben – aber genau dieses Gefühl suche ich bis heute, immer wieder.

Nächster Eintrag

Red Bull X-Alps 2025

Red Bull X-Alps ist das härteste Abenteuerrennen der Welt.