Benzin – Berge – Boom

Wie das Auto ins Engadin kam – und blieb: Die neue Ausstellung der St. Moritz Design Gallery (27.Juni – 30.November) beleuchtet unter dem Titel «Benzin, Berge, Boom» die Geschichte von 100 Jahren Automobil in Graubünden – mit eindrucksvollen historischen Fotografien von 1925 bis heute.
vonDocumentation Library St. Moritz

Verbotene Technik – die Anfänge bis 1925

Um die Jahrhundertwende war das Automobil vielerorts eine technische Kuriosität – in Graubünden hingegen galt es als echte Bedrohung. Im Jahr 1900 reagierte der Kanton mit einem rigorosen Verbot: Motorfahrzeuge durften nicht auf öffentlichen Strassen verkehren. Die Gründe für die Ablehnung waren vielfältig: Angst vor Lärm, Gestank und Staub, vor allem aber die Sicherheit auf den engen Bergstrassen. Ein Flugblatt aus dieser Zeit bringt die Haltung auf den Punkt: «Automobil? Nein!» (siehe Foto).

Damals waren Strassen Lebensräume: Kutschen, Fahrräder, Kinder, Tiere und Fussgänger teilten sich die Wege. Ein plötzlich auftauchendes Auto – damals nicht viel schneller als 20 Stundenkilometer – brachte das Gleichgewicht durcheinander. Pferde scheuten, Menschen klagten über Staubwolken. Der Widerstand war breit abgestützt: Achtmal bestätigten die Bündnerinnen und Bündner in kantonalen Volksabstimmungen das jahrzehntelange Fahrverbot – eine nationale Ausnahme.

Doch der Wandel zeichnete sich ab. Mit dem wachsenden Tourismus und den Interessen von Hoteliers, Fuhrunternehmern und ersten Automobilisten mehrten sich die Stimmen für eine Öffnung. Der Erste Weltkrieg verschob die Diskussion vorerst. Doch als das Militär mit motorisierten Lastwagen in die Täler kam und gleichzeitig Pferde für den Krieg eingezogen wurden, geriet die bisherige Transportordnung ins Wanken. Die Zahl der Pferde ging zurück, was den Kanton in eine Transportkrise stürzte und den Warenverkehr massiv verteuerte.

In dieser angespannten Situation wurden immer mehr Ausnahmegenehmigungen für Autos erteilt – zum Beispiel für die medizinische Versorgung während der Spanischen Grippe. Auch der Bund drängte auf eine Lockerung, was die politische Diskussion zusätzlich anheizte. Die Autogegner wussten jedoch das Misstrauen gegenüber «fremden Einflüssen aus Bern» immer wieder geschickt zu nutzen und den Widerstand in die Länge zu ziehen.

Erst die neunte kantonale Abstimmung im Jahr 1925 brachte die Wende: Mit einer knappen Mehrheit – der Ja-Anteil betrug 52 Prozent – hob die Bevölkerung das Verbot auf, als letzter Kanton der Schweiz. Ein Foto dokumentiert eindrücklich die Übergangszeit: Wer mit dem Auto nach St. Moritz wollte, musste improvisieren. Es war zum Beispiel erlaubt, Motorwagen von Pferden ziehen zu lassen – eine Zwischenlösung, die heute skurril anmutet.

Werbeflugblatt Initiativkomitee gegen das Auto, ca. 1925 © Fotosammlung Dokumentationsbibliothek St. Moritz

Aufbruchsjahre – 1925 bis ca. 1945

Kaum war das Fahrverbot aufgehoben, setzte ein rasanter Wandel ein – das zeigen schon die Zahlen: 1925 waren im Kanton Graubünden 136 Personenwagen immatrikuliert, was nicht einmal einem Auto pro tausend Einwohner entsprach. 1930 waren es bereits 1’051. Das Auto wurde nicht nur toleriert, sondern immer mehr gefeiert. St. Moritz erkannte das Potenzial früh: Bereits 1929 fand die erste Internationale Automobilwoche statt – ein Grossanlass mit Sternfahrt, Bergrennen, einer Schönheitskonkurrenz vor dem Kurhaus und dem Hotel Victoria in St. Moritz Bad sowie gesellschaftlichen Anlässen. Herzstück war das legendäre Bernina-Bergrennen über 16 kurvenreiche Kilometer (siehe Foto). Für das sogenannte Kilometerrennen liess der Mineralölkonzern Shell die Strasse zwischen Punt Muragl und Samedan asphaltieren – ein für die Region wichtiger Infrastrukturakt (siehe Foto) mit nachhaltigem Sponsoringeffekt: Noch heute wird diese Strecke «Shellstrasse» genannt.

Einige Bilder dokumentieren den gesellschaftlichen Wandel: Das Auto wurde zum Symbol eines modernen, urbanen Lebensstils – vor allem im mondänen St. Moritz. Die Strassen wurden zunehmend asphaltiert, wie die Via Traunter Plazzas, und das Automobil eroberte den öffentlichen Raum. Der Wandel vom gemeinsamen Verkehrsraum zur autozentrierten Infrastruktur war unübersehbar.
Veranstaltungen wie die Internationalen Alpenfahrten zogen Publikum an. Gleichzeitig entstanden die ersten Autogaragen wie die Central Garage. Um den neuen Verkehrsverhältnissen gerecht zu werden, setzte St. Moritz Verkehrspolizisten ein, die nicht nur den Verkehr regelten, sondern auch Ansprechpartner für die Automobilisten waren. Auch bei den Fahrzeugen hielt die Zukunft Einzug: Das Postauto Saurer 2A mit Skiern unter den Vorderrädern oder das Raupenfahrzeug Citroën Kégresse mit Halbkettenantrieb (siehe Foto) zeigen eindrucksvoll den Umbruch vom Langsamverkehr zur neuen automobilen Mobilität.

1. Internationale St. Moritzer Automobilwoche Kilometer-Rennen auf der Shellstrasse, im Hintergrund Samedan, 1929 © Fotosammlung Dokumentationsbibliothek St. Moritz

Raupenfahrzeug Citroën Kégresse vor dem Kulm Hotel , ca. 1928 © Fotosammlung Dokumentationsbibliothek St. Moritz

Skitransport, ca 1930 © H. Niedecken

3. Internationale Alpenfahrt, Zielankunft beim Kulm Hotel, 1931 © H. Niedecken

6. Internationale Alpenfahrt, Besammlung am Bahnhof, 1934 © H. Niedecken

I. Nationales Maloja-Bergrennen, 25.9.1938 © H. Niedecken

1. Internationale St. Moritzer Automobilwoche Kilometer-Rennen auf der Shellstrasse, im Hintergrund Samedan, 1929 © Fotosammlung Dokumentationsbibliothek St. Moritz

Raupenfahrzeug Citroën Kégresse vor dem Kulm Hotel , ca. 1928 © Fotosammlung Dokumentationsbibliothek St. Moritz

Skitransport, ca 1930 © H. Niedecken

3. Internationale Alpenfahrt, Zielankunft beim Kulm Hotel, 1931 © H. Niedecken

6. Internationale Alpenfahrt, Besammlung am Bahnhof, 1934 © H. Niedecken

I. Nationales Maloja-Bergrennen, 25.9.1938 © H. Niedecken

1. Internationale St. Moritzer Automobilwoche Kilometer-Rennen auf der Shellstrasse, im Hintergrund Samedan, 1929 © Fotosammlung Dokumentationsbibliothek St. Moritz

Raupenfahrzeug Citroën Kégresse vor dem Kulm Hotel , ca. 1928 © Fotosammlung Dokumentationsbibliothek St. Moritz

Skitransport, ca 1930 © H. Niedecken

3. Internationale Alpenfahrt, Zielankunft beim Kulm Hotel, 1931 © H. Niedecken

6. Internationale Alpenfahrt, Besammlung am Bahnhof, 1934 © H. Niedecken

I. Nationales Maloja-Bergrennen, 25.9.1938 © H. Niedecken

Mobilität im Alltag – ab ca. 1945

In den folgenden Jahrzehnten wurde das Automobil für alle, die schon ein Auto besassen, zu einem festen Bestandteil des Alltags. Das Postauto prägte das neue Strassenbild und auch der motorisierte Individualverkehr nahm spürbar zu. Ob Handwerkerfahrten, Familienausflüge oder die Tour ins Nachbardorf: Das Auto war nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel.

Die neue Mobilität veränderte das Ortsbild, die Geräuschkulisse und das Verhältnis zur umgebenden Landschaft. St. Moritz wäre nicht St. Moritz, hätte man das Automobil nicht auch in den Dienst des Vergnügens und des Sports gestellt: Das Bild vom Maloja-Bergrennen erinnert an die Rennleidenschaft jener Jahre – damals noch auf gepflasterten Strassen ausgetragen.

Ein architektonisches Highlight dieser Zeit ist die Conrad-Tankstelle St. Moritz. Ihre klaren Linien und das überdachte Dach lassen Anklänge an amerikanisches Design erkennen und stehen beispielhaft für das moderne Lebensgefühl, das mit dem Auto Einzug hielt.

Links vom Auto Skirennfahrerin Hedy Schlunegger, rechts Skirennfahrer Edi (Romedi) Reinalter (beide Schweiz), 1948 © Fotosammlung Dokumentationsbibliothek St. Moritz
Plazza da la Posta Veglia mit Hotel Restaurant Bernasconi, Hotel Steffani, Hotel Caspar Badrutt, Testa Sport, ca. 1950 © Fotosammlung Dokumentationsbibliothek St. Moritz

Rückkehr der Zweifel – das Auto heute

Das Automobil wird nicht erst seit heute kontrovers diskutiert. Klimawandel, zunehmende Flächenknappheit und Verkehrslärm setzen ihm zu. In der Schweiz gibt es immer mehr autofreie Zonen, Städte denken um und auch die Elektromobilität gilt nicht mehr als Allheilmittel. Die Neuwagenverkäufe steigen nicht mehr so stark an wie früher. Gleichzeitig gewinnen neue Mobilitätsformen an Bedeutung. Auch das Verständnis von Luxus hat sich gewandelt: Ein Auto gilt nicht mehr automatisch als Statussymbol – Understatement und Nachhaltigkeit prägen das Denken der neuen Generationen. Damit schliesst sich ein Kreis: Nach einem Jahrhundert der Expansion ist das Automobil heute mehr denn je wieder erklärungsbedürftig geworden.

Und doch: St. Moritz bleibt ein Ort, an dem das Automobil zelebriert wird. Mit Veranstaltungen wie dem British Classic Car Meeting St. Moritz, der Passione Engadina, dem «Hill Climb» Bernina Gran Turismo oder The ICE St. Moritz (International Concours of Elegance) auf dem St. Moritzersee lebt hier die Leidenschaft für das Auto weiter. Auch abseits der Events ist St. Moritz ein Anziehungspunkt für Autobegeisterte aus aller Welt. Die Affinität zum Auto zeigt sich im Alltag ebenso wie im Detail: So holt beispielsweise das Badrutt’s Palace Hotel seine Gäste noch heute mit seinem legendären Rolls-Royce vom Engadin Airport ab. Und der originale Fiat Panda 4x4, mit dem Gianni Agnelli einst durch St. Moritz fuhr, wurde nicht zuletzt dank St. Moritz zum gefeierten Kultfahrzeug einer kreativen Elite. Das Auto ist vielerorts, insbesondere in St. Moritz, immer noch weit mehr als nur ein Fortbewegungsmittel. Es verkörpert ein Lebensgefühl und ist Teil einer analogen Erlebniswelt, die bis heute eine grosse Faszination ausstrahlt.

Kostenlose Führungen durch die Ausstellung gibt es hier.