Bauherren der Träume

St. Moritz ist seit jeher der Ort, wo man seine Visionen verwirklichen kann. Die Architektur der Region ist ein monumentaler Beweis dafür. Wir werfen einen Blick auf die Bauten von Nicolaus Hartmann sen. und seinem Sohn Nicolaus Hartmann jun. um herauszufinden, wie sie ihre Visionen verwirklicht und eindrückliche, nachhaltige Bauwerke geschaffen haben.
vonAlistair MacQueen

Alistair MacQueen ist freier Autor in Grossbritannien und Redakteur bei The Gentleman’s Journal. Er schrieb über Engadiner Kunst für The Observer und über Sgraffito für Monocle – und sehnt sich ab und zu nach Pizzoccheri.

Das Motto von St. Moritz lautet: «Es gibt nichts, was es hier nicht gibt», aber es könnte auch sein: «Think big». Von den modernen Gründervätern des Dorfes, den Galeristinnen, Hotelmanagern, Schmuckdesignern, Kunsthandwerkerinnen bis hin zu den Organisatoren von Musikfestivals - der unbeschreibliche und dynamische Geist von St. Moritz durchzieht sie alle.

Der Wille, etwas Grösseres, Erhabeneres, spirituell Bedeutsames und die Seele Berührendes zu schaffen, ist hier überall spürbar. Man könnte sagen, dass alles in der Mitte des 19. Jahrhunderts seinen Anfang nahm, als Johannes Badrutt aus einem von der Landwirtschaft geprägten Tal eine touristische Destination von Weltrang machen wollte.

Badrutts Vision wurde zweifellos durch den Architekten Nicolaus Hartmann sen. bestärkt. Der 1838 in Chur geborene Architekt hatte verschiedene Zeichen- und Gewerbeschulen besucht und bereits mehrere Um- und Neubauten von Dörfern, Kurhäusern und Villen in der Schweiz geleitet, bevor er 1872 nach St. Moritz kam.

Frei von staatlichen oder politischen Vorgaben legte Hartmann sen. zweifellos den Grundstein für eine blühende Tourismusindustrie. Er verwendete keine eigene formale Designsprache, aber seine Bauten vereinen eine Reihe von Stilen, von der Neugotik über die Neorenaissance und den Spätklassizismus bis hin zum typischen Chaletstil, den wir heute kennen.

Um seiner Überzeugung Ausdruck zu verleihen, dass Architektur ihre Umgebung respektieren und aufwerten muss, begann Hartmann sen. mit den klassischen Holzarten der Region und den lokalen Steinbrüchen zu arbeiten, um seinen nachhaltigen Projekten Authentizität zu verleihen. Diese Projekte sollten neue Gäste anziehen und begeistern, von Mitgliedern des europäischen Adels bis hin zu englischen Wintersportfans, die sich vom aufstrebenden Rodelclub des Kulm's Hotel angezogen fühlten.

Und wenn es um die Projekte von Hartmann sen. geht, gibt es wohl kaum einen besseren Ausgangspunkt, um sich mit ihnen auseinanderzusetzen...

Kulm Hotel - 1886

Johannes Badrutt, seit 1856 Besitzer des Gasthauses Engadiner Kulm, beauftragte Hartmann sen. nach 20 Jahren mit der Planung eines Erweiterungsbaus, um einer immer anspruchsvolleren Kundschaft gerecht zu werden. Hartmann entwarf den Westflügel des Kulm und setzte damit einen Massstab für opulente, aber harmonische alpine Bauten in dieser Bergwelt. Er liess hydraulische Aufzüge, Warmluftheizung und modernste Wasserklosetts einbauen. Die Mischung aus architektonischer Eleganz und natürlicher Schönheit des neuen Westflügels war der erste Schritt zur Schaffung einer unverwechselbaren visuellen Identität von St. Moritz.

Grand Hotel Kronenhof Pontresina – 1870

Das Kulm war nicht das einzige Gebäude, dem Hartmann sen. seine Aufmerksamkeit widmete. Auch das Grand Hotel Kronenhof im nahen Pontresina sollte seinem Ruf und seinen Nachbarn in St. Moritz gerecht werden. Hartmann wurde beauftragt, einen Erweiterungsbau zu entwerfen, der durch eine veränderte Ausrichtung des Gebäudes einen zentralen Innenhof entstehen liess, der Exklusivität ausstrahlte und im Stil des Neobarock gestaltet war. Damit griff Hartmann den Belle-Epoque-Charakter des Gebäudes auf und steigerte mit diesem neuen Grossprojekt die Wahrnehmung alpiner Architektur.

Altes Schulhaus – 1886 – Nicolaus Hartmann sen. und jun.

Wenn es ein Gebäude gibt, das wie kein anderes für das Erbe der Familie Hartmann steht, dann ist es wohl das Alte Schulhaus in St. Moritz Dorf, in dem heute die Dokumentationsbibliothek St. Moritz untergebracht ist. Dr. Leza Dosch, Kunsthistoriker und Kenner der Bündner Architektur, erzählt die Geschichte des Gebäudes:

«Das 1886 von Nicolaus Hartmann sen. errichtete Gebäude besteht im Kern aus einem kubischen, palazzoartigen Hauptgebäude und einem markanten Turm mit vorgesetzter Haube im Stil des Historismus und der Neorenaissance. Nicolaus Hartmann jun. erweiterte das Gebäude 1909 um den Ostflügel und ein Walmdach. Er behielt den Historismus bei, fügte aber auch lokale Stilelemente hinzu. Auch wenn Hartmann jun. das Schulhaus erweiterte, so war es doch sein Vater, der den klassischen und dauerhaften Grundstein für dieses grossartige Bauwerk legte. Das alte Schulhaus wurde 1956 renoviert und 1987 sowie 1996/97 umgebaut. Unter Beibehaltung der hohen Gewölbedecke wurde dabei die Gemeindebibliothek eingerichtet. Weitere originale Innenausstattungen sind im Treppenhaus, in der Aula und im Klassenzimmer zu sehen.»

Nicolaus Hartmann jun.

1880 wurde Nicolaus Hartmann jun. geboren und ein neues Kapitel der St. Moritzer Architektur sollte beginnen.

Nach seiner Ausbildung an der Ecole d'Industrie in Lausanne und an der Technischen Hochschule in Stuttgart kehrte Nicolaus Hartman jun. nach dem Tod seines Vaters 1903 nach St. Moritz zurück und übernahm dessen Büro. Der Stil von Hartmann jun. war an der Schwelle zum 20. Jahrhundert reformorientiert, mit Elementen der Neorenaissance und der schweizerischen Rustikalität, die sich in seinen Entwürfen wiederfanden. Dieses Zusammentreffen verschiedener Designsprachen wurde zum Schmelztiegel dessen, was später als «Engadiner Stil» bekannt werden sollte.

Die ästhetischen Elemente, die dabei eine wesentliche Rolle spielen, sind die Verwendung von Bogen- und Trichterfenstern, hohe Dächer und die Mischung von Sgraffito und kompliziertem Mauerwerk. Er schuf Entwürfe, die sowohl heimisch als auch grossartig waren, die sich zurückhielten und gleichzeitig die ästhetische Innovation bewahrten, die St. Moritz seinen unverwechselbaren Charme verleiht.

Dr. Dosch untersucht den gestalterischen Wandel und den Wechsel der Zeitepochen zwischen Vater und Sohn. «Während sich Hartmann sen. vor allem auf die Bautätigkeit im Engadin konzentrierte, wurde Hartmann jun. in der ganzen Schweiz als Hotelarchitekt und Heimatschützer wahrgenommen. Hartmann sen. war ein Architekt des Historismus und daher weniger an einer eigenen Design-Sprache interessiert. Hartmann jun. hingegen übernahm die neuesten Tendenzen der regionalistischen Reformarchitektur des frühen 20. Jahrhunderts.
Typisch für Hartmann jun. ist, dass er zwar in erster Linie Regionalist, gelegentlich aber auch Historiker war. Das Engadiner Museum und das Hotel La Margna verwenden das regionale Motiv der Engadiner Trichterfenster. Das Segantini Museum Segantini und das 1912-1913 umgebaute Haus Hanselmann sind hingegen von der internationalen Architektur inspiriert. Das Museum Segantini erinnert an das antike Pantheon in Rom, das Haus Hanselmann an die Renaissance-Paläste von Florenz.»

Das Vermächtnis von Hartmann jun. ist in der ganzen Region präsent, und hier sind nur einige seiner wichtigsten Werke genannt, die es zu besichtigen gilt.

Hotel La Margna – 1906

Nachdem er bereits den Erweiterungsbau des Hotels Margna in Sils entworfen hatte, übernahm Hartmann jun. die Aufgabe, das Hotel la Margna zu gestalten. Für den Innen- und Aussenausbau verwendete er Granitsteine aus lokalen Steinbrüchen und kombinierte diese mit einer eleganten Holzvertäfelung, die durch markante Säulen mit detailreichen Gravuren ergänzt wurde. Weitere Symbole, die sich durch das gesamte Gebäude ziehen, sind die apotropäischen Drachen, die auf die örtlichen Bräuche und Traditionen verweisen, sowie die Gravur des heiligen Mauritius, des Schutzpatrons von St. Moritz.

Hoteldirektor David Frei erzählt, was das Engagement von Hartmann jun. für das Hotel bedeutet.

«Als ich General Manager des Grace La Margna St. Moritz wurde, wusste ich das Erbe von Nicolaus Hartmann jun. sehr zu schätzen. Sein Ansatz, die Eleganz des Jugendstils mit einem ausgeprägten Sinn für den Ort zu verbinden, spiegelt den dauerhaften Charme des Hauses wider. Das beeindruckendste Element seines Entwurfs ist für mich die Eingangshalle, in der die Granitsäulen aus Soglio mit ihren komplizierten Details und unverwechselbaren Farben den Charakter des Raumes bestimmen. Abgesehen von ihrem dekorativen Reiz sorgen diese Säulen auch für architektonische Dramatik, indem sie den Raum mit Ausgewogenheit und Rhythmus einrahmen und so zum zentralen Element der Erhabenheit und des zeitlosen Charmes der Eingangshalle werden. Wer seine anderen Arbeiten im Engadin kennt, weiss zu schätzen, wie das Hotel den architektonischen Charakter der Region widerspiegelt, sich harmonisch in die Landschaft einfügt und gleichzeitig durch seine Raffinesse besticht.»

Ein Besuch des Hotels mit seiner gut erhaltenen Fassade und den visuellen Anspielungen auf den Jugendstil von Hartmann jun. erinnert eindrucksvoll an die grossen Ambitionen des Dorfes, sich als herausragende Gästedestination zu etablieren, und an den Beitrag von Hartmann jun. zu dessen Gestaltung.

Engadiner Museum – 1906

Im gleichen Jahr erhielt Hartmann jun. den Auftrag, ein Museum zu bauen, das die Geschichte und die reichen Traditionen der Bündner und Engadiner sowie der rätoromanischen und ladinischen Volkskultur, des Handwerks und der Kultur präsentieren sollte. Die Gestaltung des Museums ist selbst eine lebendige Tradition und fügt sich nahtlos in die übrigen Bauten an der Via dal Bagn ein. Hartmann entwarf das Gebäude im Stil eines traditionellen Engadiner Hauses, was seinen eigentlichen Zweck unterstreicht.

Die Fenster mit Sgraffito-Trompe-l'oeil-Säulen, Symbolen und Bögen sind noch genauso wie zu Hartmanns Zeiten, aber für heutige Besucher liebevoll erhalten.

Als solches ist es immer noch ein bemerkenswertes Gebäude und Museum, das an die traditionellen Bauernhäuser der Region erinnert, mit Anspielungen auf die «Heimatstil»-Bewegung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa aufkam.

Segantini Museum – 1908

Hartmann jun., der offensichtlich ein Gespür für Museen hatte, wurde auch mit der Gestaltung des Seganitini-Museums beauftragt, das dem Werk des Künstlers Giovanni Segantini gewidmet ist. Der in Italien geborene Maler liess sich zuerst im bündnerischen Savognin und später im nahen Maloja nieder. Von dort aus wurde er zum Synonym für seinen Pleinair-Stil (er wanderte oft stundenlang, um seine symbolistischen Landschaften einzufangen), der weite, ruhige Ausblicke auf Seen, Berge und Wälder bietet.

Bei diesem Gebäude wagte Hartmann jun. seinen bis dahin kühnsten Entwurf, indem er das Museum aus lokalem Bruchsteinmauerwerk hoch über der Strasse errichtete und damit seine Dominanz und Bedeutung für alle Besucher deutlich machte. Diese Erhabenheit und Dominanz wurde durch ein beeindruckendes Kuppeldach gekrönt. Diese monolithische Kuppelstruktur vermittelte ein Gefühl von Weite und Geborgenheit, perfekt für die Betrachtung von Segantinis weitläufigen Landschaften. Die visuellen Einrichtungen des Museums sind Gedenkstätte und Museum zugleich und erinnern auf angemessene Weise an den Maler, der die Landschaften und die Herzen vieler Menschen dieser Region erobert hat.

Reithalle – 1910

In St. Moritz Bad, mit Blick auf den St. Moritzer See, befindet sich die Reithalle. Ursprünglich für die passionierten Reiter des St. Moritz Racing Club erbaut, ist sie ein unaufdringliches, aber innovatives Beispiel für Hartmanns technische Virtuosität. Mit einer grosszügigen Holzkonstruktion schuf Hartmann einen stützenfreien Raum, der den Reitern eine grosse Fläche zum freien Reiten bot. Dies gelang ihm mit einer Technik, die als «Hetzer-Dachkonstruktion» bekannt ist. Dabei werden gebogene Holzbalken schichtweise miteinander verleimt, um die nötige Festigkeit zur Überbrückung grosser Distanzen zu erreichen. Ausserdem sorgt es für eine hervorragende Akustik, und in den letzten Jahrzehnten fanden hier Konzerte und Veranstaltungen statt.

Der Reitbetrieb wurde 2013 eingestellt und das Dach musste seither schrittweise abgestützt und repariert werden. Im Jahr 2022 lehnten die Stimmberechtigten von St. Moritz ein Sanierungsprojekt ab. Weitere Ideen sind jedoch in Entwicklung und über die Zukunft des Standortes als multifunktionaler Veranstaltungsort wird weiterhin diskutiert.

St. Moritz Bahnhof – 1927

Hartmann jun. hatte bereits das berühmte Verwaltungsgebäude der Rhätischen Bahn in Chur sowie das Bahnhofsgebäude (und Berggasthaus) der Alp Grüm in Poschiavo entworfen und gebaut und verfügte somit über eine gewisse Kompetenz in der Verkehrsarchitektur. Für diesen höchsten aller städtischen Bahnhöfe der Schweiz, der als Eingangstor für viele Touristen und Besucher dient, hat Hartmann Funktionalität und Ästhetik miteinander verbunden. Der Bahnhof, der aus dem gleichen polierten Bruchsteinmaterial errichtet wurde, das auch für seine Arbeiten für das Segantini-Museum typisch war, ist überraschend kompakt und folgt dem Stil von Hartmann jun., mit Bescheidenheit in der Natur zu bauen.

Hartmanns Bahnhof hat traditionelle Flügelfenster und ein schräges Dach, das einen kleinen Uhrenturm umschliesst. Auf den Bahnsteigen tragen mächtige Steinsäulen niedrige Dächer, die den Ein- und Aussteigern als praktischer Schutz vor der Witterung dienen. Das gesamte Bauwerk schafft mit seiner Mischung aus Schweizer Patriziertradition und moderner Effizienz eine einladende Atmosphäre für anspruchsvolle internationale Reisende - ein weiteres Paradebeispiel dafür, wie Hartmann Engadiner Ästhetik mit zeitgemässer Funktionalität verbindet.

*Herzlichen Dank an Dr. Leza Dosch für seine Hilfe und Unterstützung bei diesem Artikel. Der Kunsthistoriker aus Chur ist Autor zahlreicher Werke, Studien und Publikationen: «Design im Wettbewerb» und «Architekturgeschichte Graubündens 1850-1930» (Scheidegger & Spiess). *

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Am 24. und 25. Juni 2023 öffnet das Engadin zum zweiten Mal seine Türen. Die Veranstaltung bietet Architektur für alle und gewährt einen spannenden Einblick in die aufregende Vielfalt der Engadiner Bauten.

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