Für wen sind Kunstwerke da?

Es ist ein tragisches Missverständnis, dass Kunst als elitär gilt. Das Gegenteil ist wahr, wie öffentliche Kunst zeigt.
vonHans Ulrich Obrist

Diese Frage kann ich schnell beantworten: Für alle. Es gibt keine exklusive Kunst. Natürlich hat man von manchen Werken noch mehr, wenn man etwas über ihre Entstehung und Konzeption weiss, aber eine der wesentlichen Eigenschaften der Kunst ist es, allen und jeder ein ästhetisches Angebot zu machen.

«Supergraphics» heissen die überdimensionalen Typografien von Barbara Stauffacher Solomon – nun endlich auch in der Schweiz zu sehen.

Was dem ein wenig im Wege steht, ist der Umstand, dass sich die meiste Kunst hinter den Mauern von Museen und Ausstellungshäusern befindet und es Geld und für viele Menschen auch Überwindung kostet, in diese hineinzugehen.

Dem steht aber eine künstlerische Praxis gegenüber, die von sich aus auch ausserhalb der Kunstinstitutionen wirken will, die im Alltag, im Leben der Menschen präsent sein will und vermehrt öffentliche Kunstwerke schafft. Eine Künstlerin, die diesen Ansatz schon seit mehr als einem halben Jahrhundert verfolgt, ist die über neunzigjährige amerikanische Grafikerin Barbara Stauffacher Solomon, die in den USA als Schöpferin der sogenannten Supergraphics wachsende Bekanntheit erlangt, in der Schweiz aber bedauerlicherweise viel zu wenig gewürdigt wurde.

Schon ihre Geschichte ist filmreif. Nachdem ihr Mann, ein Filmemacher, jung verstarb, ging sie als alleinerziehende Mutter einer kleinen Tochter aus Kalifornien in die Schweiz und studierte, um sich und ihrer Tochter einen Lebensunterhalt zu sichern, in Basel beim legendären Armin Hofmann Grafikdesign. Zurück an der Westküste verband sie die reduzierte Ästhetik der Helvetica mit dem kalifornischen Cool und schuf riesige, wandfüllende Grafiken und Typografien – die Supergraphics.

Nun ist eine ihrer energetischsten Supergraphics auch in der Schweiz zu sehen sein. Das Projekt – wie oft bei öffentlicher Kunst braucht es viele helfende Hände – ist eine Zusammenarbeit der Gemeinde St. Moritz mit der Serpentine und Elena Foster, mit Unterstützung der Galerie Von Bartha und der Thomas und Doris Ammann Stiftung.

Die Botschaft richtet sich ganz explizit an wirklich alle: «WELCOME», dieses Wort wurde 4 Meter hoch und 29 Meter breit an eine Steinwand nahe dem Seeufer angebracht, weithin sichtbar und als freundliches, umarmendes Zeichen an alle. Nicht jedes Kunstwerk eignet sich dazu, im öffentlichen Raum zu wirken und seine integrative Kraft zu entfalten, aber ich wünsche mir und prophezeie, dass die öffentliche Kunst in den nächsten Jahren stark zunehmen wird – als Kunst für alle Menschen.

Dieser Text ist ursprünglich im Das Magazin erschienen.

Hans Ulrich Obrist, Künstlerischer Leiter, Serpentine, London

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